Palermo, Freitag 20. März 2020



Liebe Freunde,

heute wollte ich es mir einfach mal gut gehen lassen und hab mir eine neue Schutzmaske gegönnt. Ich hab so ein Modell mit einem eingearbeiteten Draht, da kann man die Maske perfekt an die eigene Nasengröße anpassen. Das ist total hilfreich, so kann man verhindern, dass beim Ausatmen ein Großteil der Luft nach oben entweicht, einem die Sonnenbrille beschlägt und man halbblind auf der Straße herumtorkelt.

Mit glasklaren Blick und einem konkreten Auftrag wagte ich mich ins Zentrum unseres Viertels. Die Mortadella war ausgegangen und der Fleischer meines Vertrauens hat die beste Mortadella weit und breit. Das sagt er auch immer, wenn er die Mortadella aufschneidet, ‚Aahhh, so eine gute Mortadella, buonissima’. Wie immer lächelte er breit über sein sonnengebräuntes Gesicht, seine Goldketterln schepperten über seinem Fleischerbauch und weil er es ja gut mit einem meint, schnitt er gleich 300 anstatt der bestellen 200 Gramm auf. Er meint es immer gut mit einem, bestellt man ein Kilo bekommt man zwei, will man ein Stück Käse und er zeigt dann mit dem Schneidemesser die vorgesehene Schnittstelle an, entscheidet er sich im letzten Moment für einen und schneidet einem ein viel großzügigeres Stück ab und lacht einem herzlich ins Gesicht, alle lachen auch immer retour, keiner hat sich je beschwert. Der Fleischer ist auch mehr wie ein Fleischer, er ist ein Freund, ein ewiger Pfadfinderführer, der einem hilft, das Auto zu finden, wenn es geklaut wurde oder freundlich aber bestimmt mit dem Nachbarn ein ernstes Wörtchen redet, wenn der schon wieder die Müllsäcke vor die Einfahrt gestellt hat. Bei ihm ist auch alles super, die Kassa aus Mahagoni, der Cognac hinter Kristallglas und in den Vitrinen hat er auch das rote Licht, dass auch der älteste Brocken Fleisch noch frisch ausschaut. Kein Wunder, dass bei ihm die Geschäfte besser laufen als bei seinem hageren und blassen Fleischernachbarn gleich ums Eck, bei dem die Fliesen von den Wänden bröckeln und das grünlich blinkende Neonlicht nur zu deutlich macht, dass er höchsten alle paar Tage eine Scheibe von seiner Mortadella schneidet, so angeranzt ist die schon am Eck.

Auch heute war es wieder so, bei ihm volle Hütte, beim Nachbarn tote Hose. Man fühlte sich bei ihm wie immer und plötzlich verklebte sich dieser Gedanke in meinem Gehirn zu einem Angstklotz. OH GOTT, ES IST SO WIE IMMER. Seine Goldzähne im Grinsegesicht sehe ich ja nur, da er keine Maske trägt. Mit beklemmenden Gefühl verließ ich den Fleischerladen und musste nun an mir selbst erleben, dass mein Körper und vor allem mein Hirn mit einer solchen Stresssituationen nicht richtig umgehen kann. Als Gegenreaktion sang ich auf dem ganzen Nachhauseweg in Dauerschleife

‚Wenn das so weiter geht
bis morgen früh ja früh
steh’n wir im Alkohol
bis an die Knie.’

Zuhause angekommen, entdeckte ich bei meiner Recherche, dass es noch eine zweite Strophe gibt:

Wenn das so weitergeht
im nächsten Jahr
ham wir´s Delirium
Hallelujah

Diese Strophe ist dem 1930 erschienen Roman ‚Vaterlandlose Gesellen’ des Arbeiterschriftstellers Adam Scharrer entlehnt und wird eigentlich nie gesungen. Trotzdem kam ich aus meiner Bierzeltlaune nicht mehr heraus und habe für alle, die heute Abend um 19:30 Uhr auch mit mir beim Zoom Wohl Meeting anstoßen wollen schon mal die richtige Musik zum einschunkeln:


Wer die Rückseite der Platte bis zu Ende hört, kommt auch in den Genuss der prophetischen Textzeile:

Am 30. Mai ist Weltuntergang,
wir leben nicht mehr lang,
wir leben nicht mehr lang.


Zoom Wohl



Jürgen Weishäupl

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