Palermo, Montag, 17. März 2020


Liebe Freunde,

heute sollte ein guter Tag werden, dachte ich mir. Nach der recht kritischen Morgenbetrachtung meines noch zart sprießenden Coronabartes, klickte ich voll freudiger Erwartung auf die Taste ‚Sendung nachverfolgen’, um mir anzusehen, wann wohl heute meine online bestellten Halbschuhe geliefert werden würden. Ein Schrecken durchfuhr meinen Körper:. ‚Sendung vom Empfänger abgelehnt’ stand da, Uhrzeit 8:42. Wut und Schuldbewusstsein mischten sich, denn um die Uhrzeit lag ich noch im Bett. Die Hotline anzurufen war die spontane Reaktion, die zur Erkenntnis führte, dass man italienische Hotlines mit einem österreichischen Handy nicht anrufen kann.

Es musste etwas geschehen, irgendwas. Eine Zeitung kaufen, zum Beispiel. Nach langem innerfamiliärem Abwägen, ob es das Kontaminierungsrisiko wert wäre, in einer heutigen Zeitung veraltete Sachen von gestern zu lesen, setzten sich mein Wagemut und meine Abenteuerlust durch, verstärkt durch die Tatsache, dass ich einen ganzen Sack von Schutzmasken bei meiner Flucht aus Österreich mitbrachte und auf einen großen Pool an Desinfektionsflaschen zurückgreifen konnte. Es war die richtige Entscheidung: draußen erwartete mich Vogelgezwitscher statt Zweitaktgestotter, von den Balkonen winkten mir Kinder zu, und vermummte Menschen wichen mit hoffnungsvollen Blicken weiträumig aus. Mit wehmütigen Augen schaute ich in die Auslage eines Schuhgeschäfts: da standen sie zu hunderten nebeneinander, die Paare meiner Begierde, so nah und doch unerreichbar. Ich machte mich schon auf in Richtung Zeitungskiosk, als ich bemerkt, dass ein Mensch zur Tür des Schuhgeschäfts redete. Wie sich bei genauerer Betrachtung herausstellte, stand in der halbgeöffneten Tür ein weiterer Mensch. Ich nahm all meinen Mut zusammen und näherte mich vorsichtig und fragte unterwürfig, ob es wohl möglich wäre Schuhe zu kaufen. Nein, das wäre verboten, sagte grad heraus der Mann in der Tür, während der andere zurückwich um den Schutzabstand von mindesten einem Meter zu mir zu wahren. Ich setzte meinen besten austro-italienischen Akzent auf, zeigte auf meine Pelzstiefel und klagte Ihnen mein Leid von wegen Schweißfüssen und Finnland. Es schien zu wirken. Der Mann auf Sicherheitsabstand sagte zum Mann in der Tür: Dieser Mensch ist in einer Notlage, wir müssen ihm helfen. Etwas zögerlich öffnete der Mann in der Tür diese nun ganz und stellte klar, dass er mir unmöglich einen Beleg ausstellen könne. Ich antwortete mit der sizilianischen Scheiß-der-Hund-drauf-Geste und betrat den Laden, nachdem der Mann draußen erst noch die ganze Umgebung nach vielleicht irgendwo herumstreunenden Ordnungshütern mit seinen zusammengekniffenen Augen abtastete. ‚Giù la testa’, also ‚Kopf nach unten’, sagte er mir und gebückt folgte ich ihm wie durch Schützengräben durch das brusthoch aufgestellte Schuhkartonlabyrinth zu einem sicheren und von außen uneinsichtigen Bereich des Schuhgeschäfts, während sein Komplize draußen vor der Tür unauffällig Schmiere stand. Der Schuhgeschäftsmann ging jetzt wieder aufrecht, als ob er irgendetwas ordnen würde, durch das Geschäft und brachte mir mehrere in meiner Größe vorhandene Schuhe. Trotz des Halbdunkels, denn sicherheitshalber schaltete er das Licht nicht an, wurde deutlich sichtbar, was einem in einen Schuhgeschäft sonst total peinlich ist: nämlich die Schweißflecken auf den Socken, welche in dieser besonderen Situation aber meine Notlage erst so richtig verdeutlichten. Dennoch nahm ich das erste Paar und fragte, ob ich sie gleich anlassen könne. Klar, aber er würde mir jetzt die Schuhe nicht in einen Karton geben - das wäre zu auffällig -  sondern einfach in einen Sack. Gebückt schlichen wir zurück bis zur Kassa hinter der wir uns beide verschanzten und das Geldgeschäft erledigten. Der Komplize draußen gab uns ein Zeichen, dass die Luft rein wäre, und mehrfach ‚Grazie’ murmelnd verließ ich das Schuhgeschäft und fing an, die Titelmelodie von ‚Giù la testa’ von Ennio Morricone durch meine Schutzmaske zu pfeifen, die mir seit der diesbezüglichen Aufforderung nicht mehr aus dem Kopf ging. Auf Deutsch heißt dieser zweite Teil der Amerika-Trilogie von Sergio Leone übrigens ‚Todesmelodie’, auch passend für diese Zeit, dachte ich mir, jeden Schritt in meinen neuen Schuhen freudig betrachtend.

Und weil es einfach ein super Lied ist, möchte ich Euch diese Konzerteinspielung aus Venedig nicht vorenthalten:




Jürgen Weishäupl

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