Liebe Freunde,
heute sollte ein guter Tag werden, dachte ich mir. Nach der
recht kritischen Morgenbetrachtung meines noch zart sprießenden Coronabartes,
klickte ich voll freudiger Erwartung auf die Taste ‚Sendung nachverfolgen’, um
mir anzusehen, wann wohl heute meine online bestellten Halbschuhe geliefert
werden würden. Ein Schrecken durchfuhr meinen Körper:. ‚Sendung vom Empfänger
abgelehnt’ stand da, Uhrzeit 8:42. Wut und Schuldbewusstsein mischten sich,
denn um die Uhrzeit lag ich noch im Bett. Die Hotline anzurufen war die
spontane Reaktion, die zur Erkenntnis führte, dass man italienische Hotlines
mit einem österreichischen Handy nicht anrufen kann.
Es musste etwas geschehen, irgendwas. Eine Zeitung kaufen,
zum Beispiel. Nach langem innerfamiliärem Abwägen, ob es das
Kontaminierungsrisiko wert wäre, in einer heutigen Zeitung veraltete Sachen von
gestern zu lesen, setzten sich mein Wagemut und meine Abenteuerlust durch, verstärkt
durch die Tatsache, dass ich einen ganzen Sack von Schutzmasken bei meiner
Flucht aus Österreich mitbrachte und auf einen großen Pool an
Desinfektionsflaschen zurückgreifen konnte. Es war die richtige Entscheidung:
draußen erwartete mich Vogelgezwitscher statt Zweitaktgestotter, von den
Balkonen winkten mir Kinder zu, und vermummte Menschen wichen mit
hoffnungsvollen Blicken weiträumig aus. Mit wehmütigen Augen schaute ich in die
Auslage eines Schuhgeschäfts: da standen sie zu hunderten nebeneinander, die
Paare meiner Begierde, so nah und doch unerreichbar. Ich machte mich schon auf
in Richtung Zeitungskiosk, als ich bemerkt, dass ein Mensch zur Tür des
Schuhgeschäfts redete. Wie sich bei genauerer Betrachtung herausstellte, stand
in der halbgeöffneten Tür ein weiterer Mensch. Ich nahm all meinen Mut zusammen
und näherte mich vorsichtig und fragte unterwürfig, ob es wohl möglich wäre
Schuhe zu kaufen. Nein, das wäre verboten, sagte grad heraus der Mann in der
Tür, während der andere zurückwich um den Schutzabstand von mindesten einem
Meter zu mir zu wahren. Ich setzte meinen besten austro-italienischen Akzent
auf, zeigte auf meine Pelzstiefel und klagte Ihnen mein Leid von wegen
Schweißfüssen und Finnland. Es schien zu wirken. Der Mann auf Sicherheitsabstand
sagte zum Mann in der Tür: Dieser Mensch ist in einer Notlage, wir müssen ihm
helfen. Etwas zögerlich öffnete der Mann in der Tür diese nun ganz und stellte
klar, dass er mir unmöglich einen Beleg ausstellen könne. Ich antwortete mit
der sizilianischen Scheiß-der-Hund-drauf-Geste und betrat den Laden, nachdem
der Mann draußen erst noch die ganze Umgebung nach vielleicht irgendwo
herumstreunenden Ordnungshütern mit seinen zusammengekniffenen Augen abtastete.
‚Giù la testa’, also ‚Kopf nach unten’, sagte er mir und gebückt folgte ich ihm
wie durch Schützengräben durch das brusthoch aufgestellte Schuhkartonlabyrinth
zu einem sicheren und von außen uneinsichtigen Bereich des Schuhgeschäfts,
während sein Komplize draußen vor der Tür unauffällig Schmiere stand. Der
Schuhgeschäftsmann ging jetzt wieder aufrecht, als ob er irgendetwas ordnen
würde, durch das Geschäft und brachte mir mehrere in meiner Größe vorhandene
Schuhe. Trotz des Halbdunkels, denn sicherheitshalber schaltete er das Licht
nicht an, wurde deutlich sichtbar, was einem in einen Schuhgeschäft sonst total
peinlich ist: nämlich die Schweißflecken auf den Socken, welche in dieser
besonderen Situation aber meine Notlage erst so richtig verdeutlichten. Dennoch
nahm ich das erste Paar und fragte, ob ich sie gleich anlassen könne. Klar,
aber er würde mir jetzt die Schuhe nicht in einen Karton geben - das wäre zu
auffällig - sondern einfach in einen
Sack. Gebückt schlichen wir zurück bis zur Kassa hinter der wir uns beide
verschanzten und das Geldgeschäft erledigten. Der Komplize draußen gab uns ein
Zeichen, dass die Luft rein wäre, und mehrfach ‚Grazie’ murmelnd verließ ich
das Schuhgeschäft und fing an, die Titelmelodie von ‚Giù la testa’ von Ennio
Morricone durch meine Schutzmaske zu pfeifen, die mir seit der diesbezüglichen
Aufforderung nicht mehr aus dem Kopf ging. Auf Deutsch heißt dieser zweite Teil
der Amerika-Trilogie von Sergio Leone übrigens ‚Todesmelodie’, auch passend für
diese Zeit, dachte ich mir, jeden Schritt in meinen neuen Schuhen freudig
betrachtend.
Und weil es einfach ein super Lied ist, möchte ich Euch
diese Konzerteinspielung aus Venedig nicht vorenthalten:
Jürgen Weishäupl
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen